In meinem Freundeskreis gibt es zwei Gruppen von Frauen: Einmal sind da die Mamis, die neben Haushalt und Kindern einen Teilzeit-Job ausüben. Dann habe ich Freundinnen, die beruflich stark engagiert sind und Karriere machen. Ich hätte mir beides vorstellen können, doch ich gehöre nirgends dazu. Also, wer bin ich?
Als ich in die Reha-Kliniken Valens gekommen bin, hat mir der Oberarzt geraten, mich einmal mit dem Psychiater zu unterhalten. Ich dachte mir warum nicht. Wir haben über das Erlebte der letzten Monate gesprochen. Die Stammzelltransplantation ist so stark, dass sie Körper und Persönlichkeit angreift. Es tauchen Fragen auf wie: Wer bin ich? Wer will ich sein? Er hat mir den Tipp gegeben, mich nicht verunsichern zu lassen. Ich solle mich darauf besinnen, was vorher in meinem Leben gut war und was mich als Person ausgemacht hat.
Ich habe früher gerne und viel gearbeitet. Man kann sagen, ich habe mich über meine Arbeit definiert. Leider bin ich seit März 2018 arbeitsunfähig und es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis überhaupt an eine berufliche Neuorientierung zu denken ist.
Ich mag Kinder. Mutter zu werden, hätte mir Freude bereitet. Da ich keinen Partner habe und gesundheitlich angeschlagen bin, ist das auch keine Option. Ausserdem bin ich seit der Stammzelltransplantation UNFRUCHTBAR. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das preisgeben soll. Doch ich finde es wichtig, darüber zu schreiben. Es ist nun mal eine sehr wahrscheinliche Nebenwirkung der Stammzelltransplantation. Tja, und darum bin ich jetzt mit 37ig in den Wechseljahren! Das ist nicht gerade ein Hit...
Das heisst für mich, ein Lebensmodell wie es die meisten haben, wird bei mir nicht funktionieren. Trotzdem weigere ich mich, nicht zu genügen, weil ich nichts Messbares leisten kann!
Was für Hobbies habe ich früher gehabt? Ich bin sehr gerne gereist, habe regelmässig Sport getrieben (Bodypump, Zumba, Joggen) und bin eine leidenschaftliche Hobby-Bäckerin gewesen. Nach und nach habe ich alle meine geliebten Freizeitbeschäftigungen aufgeben müssen. Leider konnte ich bisher keine dieser Tätigkeiten wieder reaktivieren.
Warum beschäftigt es mich überhaupt so, wer ich bin? Ich habe immer im Hier und Jetzt gelebt und einfach alles drauflos umgesetzt, was mir wichtig war. Momentan sitze ich viel zu Hause und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Es scheint, als drehe sich die Welt weiter, aber meine Zeit ist stehen geblieben. Zudem höre ich immer den Hasen aus Alice im Wunderland nervös in meinen Kopf herumrennen, der ständig ruft: "Es ist Zeit, es ist Zeit."
Aber für was ist denn Zeit und warum stresst mich das so? Wenn ich meiner Katze zuschaue, wie sie genüsslich in der Sonne liegt und mit sich und der Welt im Reinen ist, denke ich mir, dass ich mir selber viel zu viel Druck mache. In einer Zeit voller Facebook-Poeten, viel Leistungsdruck und "Supertalenten" bin ich wahrscheinlich (wie viele) zu streng mit mir selber.
Bin ich unglücklich mit meinem Leben? Nein! Bin ich manchmal frustriert? Ja! Es läuft bei mir nicht so rund, wie bei meinen Freundinnen. Das ist ein Fakt. Auf der anderen Seite kenne ich mittlerweile viele Menschen mit MS oder anderen Krankheiten, die ein sehr schweres Los gezogen haben. Oft kommen finanzielle Probleme und Einsamkeit hinzu. Darum finde ich, dass ich trotzdem privilegiert bin! Meine Familie und Freunde unterstützen mich sehr! Mein Körper ist (noch) schwach, doch mein Geist ist wach und kreativ! Vielleicht macht genau das mich aus?!
Wahrscheinlich wird sich in Zukunft alles von alleine ergeben. Ich glaube an das Schicksal und dass man es positiv beeinflussen kann - "Irgendeinisch fingt ds Glück eim".
Der Psychiater vom Reha-Zentrum Valens hat mir zum Schluss gesagt, ich solle an meinen Zielen, Wünschen und meinem Ehrgeiz im Leben festhalten.
"Die Frage ist nicht, gehe ich aufs Matterhorn, sondern wen nehme ich als Bergführer mit und wie hoch ist das Tempo". In diesem Sinne wünsche ich allen einen gemütlichen Sonntag!
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